Suzanne Hüttenmoser Roth, Fachpsychologin für Psychotherapie FSP

Beziehungsfähigkeit

Wenn es in Beziehungen kriselt kommt schnell der Vorwurf auf: „Du bist nicht beziehungsfähig.“ Beziehungsfähigkeit bedeutet, dass wir in der Lage sind mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, eine Beziehung aufzubauen und zu halten. Die Sehnsucht nach tiefen Beziehungen, emotionaler Sicherheit und Nähe tragen wir eigentlich alle in uns, sie ist uns angeboren. Ein wichtiger Faktor, der diese Fähigkeit beeinflusst, ist die Bindungsgeschichte. Die Grundlagen für unsere Beziehungsfähigkeit werden in der frühen Kindheit gelegt. Das, was wir in unserer Herkunftsfamilie über Beziehungen gelernt haben, beeinflusst unser späteres Beziehungsleben. Wenn wir im Kontakt mit unseren Eltern oder anderen nahen Bezugspersonen erfahren haben, dass wir liebenswerte Wesen sind und zwischenmenschlichen Beziehungen im Grossen und Ganzen vertrauen konnten, fühlen wir uns auch im späteren Leben bindungssicher. Dies zeigt sich dann positiv in der partnerschaftlichen Kommunikation und Konfliktbewältigung. Sicher gebundene Menschen können Nähe, aber auch Eigenständigkeit in einer Beziehung zulassen, ihrem Partner vertrauen, ihm offen zeigen, dass sie ihn lieben, sich Zuwendung wünschen – und umgekehrt ihn seelisch und emotional unterstützen. Sie verlieren nicht gleich den Halt, wenn der Partner eine Abmachung nicht einhält, einen Termin versäumt oder auf eine andere Art enttäuscht. Sicher gebundene Menschen gehen davon aus, dass der Partner Gründe dafür hat. Ihr grundsätzliches Vertrauen in den Anderen wird nicht so schnell erschüttert.

War dagegen auf Eltern oder wichtige Bezugspersonen kein Verlass, entwickelte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein unsicher vermeidender oder unsicher-ambivalenter Bindungsstil. Unsicher vermeidende Menschen haben als Kind häufig Zurückweisung erlebt, ihre Bezugspersonen gingen auf ihre Bedürfnisse nicht sensibel ein - oder sie wurden umgekehrt eher überstimuliert. In der Folge verstecken sie als Erwachsene ihre wahren emotionalen Bedürfnisse vor dem Partner/ der Partnerin und geben sich in Beziehungen eher unabhängig. Richtig tief lassen sie sich nicht auf jemanden ein, sie bleiben emotional distanziert und anstatt dass ihre Beziehung intensiver wird und wächst, stagniert sie ab einem gewissen Punkt.

Unsicher-ambivalent gebundene Menschen erlebten als Kinder mit ihren Bezugspersonen oft ein unbeständiges Verhalten, das zwischen hilfsbereit-zugänglich und abweisend wechselte. So waren sie einem ständigen Schwanken zwischen Aufbau von Vertrauen und Enttäuschung von Erwartungen ausgeliefert. Sie verhalten sich dadurch später eher bindungsängstlich und leiden ständig unter der Sorge, ihr Partner könnte sich von ihnen trennen. Sie sind schnell verunsichert und zweifeln, ob sie dem Partner vertrauen können, ob sie die Richtige für ihn sind. Wenn sie vom Partner oder der Partnerin enttäuscht werden, stellen sie sich oft die Grundsatzfrage: Liebt er oder sie mich noch? Abwesenheiten des Partners sind für unsicher-ambivalent gebundene Menschen oft schwierig auszuhalten. Eifersüchtig denken sie darüber nach, was der Partner oder die Partnerin ohne sie tut. So klammern sie sich oft ängstlich an ihn oder sie trennen sich sofort, wenn Schwierigkeiten und Probleme entstehen, um dem Partner zuvorzukommen und die Enttäuschung des Verlassenwerdens nicht ertragen zu müssen.

Das Geheimnis der glücklichen Paare ist Beziehungsfähigkeit. Der in der Kindheit entstandene Bindungsstil ist nicht nur Schicksal. Als Erwachsene können wir unsere frühkindlichen Bindungserfahrungen nicht löschen, aber wir sind unserem Bindungsstil auch nicht ausgeliefert, sondern können unsere Denkmuster und unser Handeln verändern. Unsicher gebundene Menschen können sich ihres Beziehungsverhaltens in der Therapie bewusst werden und lernen, ihre negativen Glaubenssätze und die Einstellung sich selber gegenüber zu verändern. Wenn negative Interpretationen abnehmen, nimmt die emotionale Stabilität und Beziehungskompetenz zu, was sich positiv auf die Partnerschaft auswirkt.

Folgende Fragen helfen, das eigene Verhalten in Beziehungen zu reflektieren und das Beziehungsmuster bewusster wahrzunehmen:

  • Wie bin ich in Beziehungen bisher gewesen, erkenne ich wiederkehrende Verhaltensmuster?
  • Wie gehe ich mit Partnerschaftskonflikten um: Möchte ich schnell alles hinwerfen oder suche ich Lösungen?
  • Klammere ich mich an meine Partnerin – und welche Angst steckt dahinter?
  • Was waren wiederkehrende Schwierigkeiten in Beziehungen?
  • Welches Verhalten meines Partners habe ich als problematisch erlebt, was hat meine Partnerin an mir kritisiert?

Für Paare, die sich in einer Beziehungskrise befinden, bei denen sich alles nur noch schwierig und anstrengend anfühlt, gibt es leider keine Blitzhilfe - auch in der Paarberatung nicht. Die angeknackste Liebe braucht Zeit zum Heilen. Es ist hilfreich, den Partner nicht als beziehungsunfähig abzustempeln, sondern sich in moderierten Gesprächen zuzuhören und zu verstehen, warum sie oder er so reagiert und handelt. Gibt es Verletzungen aus der Kindheit, die im aktuellen Konflikt angestossen  werden? Manchmal ist es gut, in Gedanken in die Schuhe des Partners zu schlüpfen. Das kann einen neuen Blick und Verständnis schaffen. In der Paartherapie geht es oft darum, als Paar wieder einen Weg zu finden, sich gegenseitig Sicherheit zu vermitteln und Freiheit zu lassen.

Positive Erfahrungen im Rahmen einer Partnerschaft können das Bindungsverhalten beeinflussen. Die Forschung zeigt: Partner können aneinander wachsen. Gemäss Alexander Grob (Professor für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie, Uni Basel) erleben sich Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl an der Seite eines zufriedenen Menschen auf die Dauer positiver. Mehr noch: Paare, die sich gegenseitig dabei unterstützten, das Beste in jedem zum Vorschein zu bringen, haben eine hohe Chance für eine zufriedene Langzeitbeziehung. Laut der Theorie des Michelangelo-Phänomens arbeitet eine enge liebevolle Beziehung im Laufe der Jahre die Konturen unserer „wahren“ Persönlichkeit heraus. Sie macht uns zu dem, was wir sein wollen. Dieses Phänomen wurde vom amerikanischen Psychologen Stephan M. Drigotas (1999) eingeführt. Der berühmte Renaissance-Künstler Michelangelo soll seinerzeit gesagt haben, die Bildhauerei bestehe im Grunde darin, einem Stein die in ihm schlummernden Formen zu entlocken. Die spätere Skulptur sei also weniger das Produkt eines kreativen Aktes als vielmehr das Resultat einer behutsamen Enthül-lungsarbeit. Drigotas meint, genauso verhalte es sich mit einer gut funktionierenden Ehe: „Sie ist nicht nur eine Verbindung und eine Beziehung, sondern auch dazu da, eine unterstützende Umwelt für persönliches Wachstum bereitzustellen.“ Als Werkzeuge dienen Empathie und Feinfühligkeit. Das Auge eines feinfühligen Partners erkennt brachliegendes Potential.